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Im Realraum des Betrachters
Cosima Rainer

„Die Durchsetzung der Disziplin erfordert die Einrichtung des zwingenden Blicks: eine Anlage, in der die Techniken des Sehens Machteffekte herbeiführen und in der umgekehrt die Zwangsmittel die Gezwungenen deutlich sichtbar machen.“

Ausgehend von Jeremy Benthams „Panoptikum“, einem nie umgesetzten Vorschlag für ein perfektes Gefängnis, beschreibt Michel Foucault die Grundlagen der aktuellen Gesellschaftsformation, die er auch als moderne Disziplinargesellschaft tituliert. In ihr werden Individuen durch vielschichtige Machtstrukturen, die die gesamte Gesellschaft durchziehen, konstituiert und nach Rang und Status klassifiziert. Heidrun Holzfeinds Leseraum erinnert strukturell an das Modell solch eines Panoptikums: Aus einem Wachturm heraus kann ein Wächter die rundherum panoptisch angeordneten Gefängniszellen permanent einsehen. Formal changiert der Leseraum zwischen einem Jägerhochstand – siehe auch seine Positionierung am Waldesrand - und einem Hightech-Wachturm. Die voll verspiegelte Fassade reflektiert den Außenraum und ermöglicht keinerlei Einblick. Aus dem Innenraum kann man aber die gesamte Umgebung beobachten. Diese spezifische Blick-Konstellation findet man sonst noch in der korporativen Architektur von Banken und Versicherungen, die dadurch ihre dominante hierarchische Position in der Gesellschaft vorführen. Bei Holzfeind wird diese Machtrhetorik aber für einen anderen Zweck eingesetzt: Die NutzerInnen des öffentlich exponierten Leseraumes im Grünen können nicht gesehen werden und sich daher entspannt der Lektüre widmen. Erklimmt man den Spiegelraum, findet man eine breite Sitzbank, Polster und eine Zusammenstellung von ca. 30 Büchern, die sowohl aus Romanen als auch aus Sach- und Theoriebüchern zum Thema Frauen und Migration besteht. Die Themenwahl greift damit ein exemplarische Beispiel auf: An der Position der Migrantin werden die Widersprüchlichkeiten unserer demokratischen westlichen Gesellschaft im Zusammenhang mit den globalen Ausbeutungsverhältnissen besonders deutlich. Wie intensiv so eine Bibliothek im Rahmen eines Festivals genutzt wird, sei dahin gestellt. Für viele BesucherInnen wird sie wohl eher symbolisch wirken. Überfliegt man nur die Auswahl der Buchtitel, ergibt sich auch ein Text: „Ach Europa! Frauen in der einen Welt. Gestrandet. Papa, was ist ein Fremder? Fremde sind wir uns selbst. Sightseeing. Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Der bittere Weg. Atlas der Globalisierung.“

Wie anders als durch ein Readers-Digest-Verfahren können im Rahmen eines Festivals solch schwergewichtige Themen vermittelt werden? Wie sich die soziopolitischen Verflechtungen der globalen Wirtschaft lokal in den ländlichen Regionen bemerkbar machen, ist 2007 Thema des gesamten Festivals der Regionen. Der Leseraum von Heidrun Holzfeind nähert sich diesem Thema auf poetische Weise, die künstlerische Geste ist nicht didaktisch, vielmehr wird die aufgegriffene Formensprache sehr präzise um- und angewendet.

Der Leseraum nimmt geschickt auf bekannte Elemente im Landschaftsraum Bezug und wirkt dadurch geradezu getarnt. Der spiegelnde Glaskubus erinnert aber auch an das Formenvokabular der Minimal Art, eine künstlerische Strömung, die sich Anfang der 1960er Jahre gegen die traditionellen Formen des Kunstschaffens abgrenzte, indem sie narrative und repräsentative Darstellungsformen ablehnte und sich auf eine Art Freilegung des „Supports“ konzentrierte. Die Arbeit des Künstlers wurde dabei mechanisiert und anonymisiert. Ein Beispiel dafür ist Robert Morris Untitled (Four Mirrored Cubes) von 1965, vier mit spiegelnden Plexiglasscheiben überzogene Holzkuben, die den Betrachter buchstäblich in die Oberfläche des Werkes integrierten und dadurch eine leibhafte Erfahrung des Hier und Jetzt, von „presence und place“ ermöglichten. Die Auseinandersetzung mit der Minimal Art ist bis heute lebhaft und immer wieder auch gezeichnet von ironischen Bezugnahmen und einer Ablehnung der rigiden, autoritären und machohaften Aussagen ihrer vor allem männlichen Protagonisten. Ihre behauptete Radikalität bestand darin, „das Gemälde zu einem Objekt im Raum des Betrachters zu machen, d.h. den Raum des Kunstwerks phänomenologisch mit dem Realraum des Betrachters zusammenzuschließen.“ Ideengeschichtlich stünde die Minimal Art damit bereits an der Kippe zur Site Specifity und Institutional Critique. Tatsächlich führen aber erst Arbeiten wie die von Heidrun Holzfeind zu dieser Zwischenposition. Folgt man ihr in den Leseraum, gelangt man wirklich ein paar Schritte weiter in den aktuellen „Realraum des Betrachters“. Durch ihren Kurzschluß verschiedener Formtraditionen (Jägerstand und Grenzturm), durch ihre Koppelung von Überwachungsarchitektur und Informationsservice zu postkolonialen, globalisierungskritischen und feministischen Zusammenhängen verdeutlicht Heidrun Holzfeind nebenbei auch die Ausgrenzung und Hermetik, die lange Zeit das westliche Kunstsystem dominierte.

 



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